Eine ukrainische Besatzung hat ihre Panzerhaubitze nach dem früheren Boxer benannt. Doch aufgrund des Munitionsmangels fehlt die Schlagkraft. Ein Besuch bei der Artillerie an der Bachmut-Front.

Die Nacht weicht dem Tag. Der rote Streifen über Sträuchern und Baumreihen, Hügeln und verwaisten Feldern verdrängt die Dunkelheit. Graue Konturen schälen sich aus dem Schwarz. Die Stille ist gebrochen, schon lange. Die Artillerie hämmert. Pfeifen und Zischen, bevor Granaten nicht weit entfernt einschlagen. Die Trichter der Einschläge ziehen sich über verblasste Felder. Dunkle Krater im Grau-Braun. Ein ununterbrochenes Grollen hängt über der Front. In der Ferne, Richtung Bachmut, steigen Leuchtgranaten auf. Bachmut haben die russischen Verbände eingenommen, monatelang beschossen sie zuvor mit Artillerie die Stadt. Heute ist sie nur noch eine tote Trümmerwüste.

 

Sascha steht neben dem Geschütz in einer Erdmulde, die Deckung geben soll. Kahles Geäst rahmt die Stellung ein. Ein hagerer Riese um die 50, mit schmalem Gesicht und eingefallenen Wangen. Auf dem Helm trägt er eine Lampe, die rotes Licht auf den Boden wirft und den Rauch seiner Zigarette in eine glühende Wolke verwandelt. „So geht das Morgen für Morgen, Tag für Tag“, sagt er. Vor 15 Minuten hat er noch den Granatwerfer bedient. Mit dem französischem Mörser Thomson-Brandt werden 120-Millimeter-Granaten abgefeuert.

Die russische Artillerie feuert und feuert

Saschas Aufgabe ist es, das Mörser-Geschütz mit einem Richtkreis einzustellen und nach jedem Schuss zu justieren. Die Daten stammen von Aufklärungsdrohnen, die die Feuerleitstelle weitergibt. Ist das geschehen, nimmt der Soldat das Messgerät wieder ab, drückt es an seine Brust, läuft ein paar Meter nach vorne. Dann in die Hocke, Gerät zwischen Oberschenkel und Bauch geklemmt, die Ohren zugehalten, Mund weit aufgerissen. Ein anderer Soldat kommt aus dem Munitionsbunker, lässt die Granate ins Rohr rutschen. Er geht in Deckung, ein Knall, ein Feuerball. Die französische Waffe speit das Geschoss Richtung russischer Linien. Die ziehen sich etwa fünf Kilometer entfernt durch das Gelände.

Jetzt wartet Sascha auf den nächsten Befehl. Während die russische Artillerie feuert und feuert. „Ich würde den Russen gerne mehr Antworten geben. Den Feind so von unseren Kameraden in der ersten Linie fernhalten“, sagt er. Der Befehl von der Feuerleitstelle bleibt aus. Stattdessen geht es zurück in den Bunker. Mit seinem Kameraden deckt Sascha zuvor das Geschütz mit einem Tarnnetz ab. „Wegen der Drohnen“, erklärt er.

Geringere Reichweite, geringere Zielgenauigkeit

Gräben führen durch ein Waldstück zum Bunker. Das ist ein in den Boden gehauenes Rechteck von vielleicht acht, neun Quadratmetern. Darüber liegen schwere Baumstämme mit Lehm und Erde bedeckt. Kommen die Einschläge nahe, zittern die Wände, rieselt die Erde. Vier Männer schlafen hier in zwei Hochbetten, die sie aus Brettern gezimmert haben. Sie verbringen einen großen Teil des Tags in dem Halbdunkel.

Juri bringt auf einem kleinen Gaskocher Wasser zum Brodeln, gießt einen Tee auf. „Unsere Munition ist streng limitiert. Die Thomson-Brand ist ein effektives Geschütz. Aber seit acht Monaten haben wir keine westliche Munition mehr dafür erhalten. Also improvisieren wir mit dem, was wir haben: nicht ganz neue Munition mit sowjetischem Standard aus Bulgarien, Tschechien oder der Ukraine. Das bedeutet geringere Reichweite, geringere Zielgenauigkeit.“ Mit Hightechmunition wie dem Rocket-Assisted-Projectile (RAP)-Geschoss kann das französische Geschütz eine Reichweite bis zu 13 Kilometern erzielen. „Da können die alten Sowjetmörser nicht mithalten“, erklärt der Unteroffizier, der seit 2014 für sein Land kämpft.

Die ukrainischen Verteidiger kämpfen mit dem, was sie haben

13 Kilometer hinter der Kampflinie, das würde ihm und seinen Männern auch mehr Schutz vor Kamikaze-Drohnen bieten. So erreichen sie mit dem französischen Geschütz allenfalls die halbe mögliche Reichweite. „Die Russen schicken ganze Drohnenschwärme. Es kommt mir manchmal wie ein Wunder vor, dass wir hier noch keinen tödlichen Treffer hatten. Andere hatten weniger Glück“, sagt Juri. Rationierte und nicht effektive Munition, russischer Dauerbeschuss und todbringende Drohnen, so kämpfen Soldaten wie Sascha und Juri gegen eine russische Armee, die mit brachialer Macht und unter großen Verlusten in die Offensive geht. Die ukrainischen Verteidiger kämpfen mit dem, was sie haben.

Dabei hatte die Europäische Union im März 2023 versprochen, binnen eines Jahres eine Million Artilleriegranaten zu liefern. Das Versprechen blieb unerfüllt. Allenfalls die Hälfte der zugesagten Geschosse sollen geliefert worden sein. Die Tschechische Republik ergriff im Februar die Initiative, um Munition für die ukrainische Front auf dem Weltmarkt zu beziehen, denn in der EU läuft die Produktion schleppend. Mehr als 20 Länder haben zugesagt, die tschechische Initiative finanziell zu unterstützen. Derweil richten sich die Blicke auf das US-Repräsentantenhaus, dass an diesem Wochenende nach monatelanger Blockade der Republikaner endlich über weitere Ukraine-Hilfen abstimmen könnte.

„Wir können die Russen so nicht auf Abstand halten“

Experten gehen davon aus, dass die ukrainischen Verteidiger mindestens 5000 Schuss am Tag benötigen, um die Front zu halten. Das estnische Verteidigungsministerium nennt sogar rund 6700 Schuss. Der Mittelwert zwischen beiden Angaben liegt bei knapp über zwei Millionen Schuss pro Jahr. Derzeit liegt die europäische Produktionskapazität bei 1,2 Millionen Granaten. Russland produziert drei Millionen Schuss jährlich.

Der Datenjournalist Marcus Welsch beschäftigt sich intensiv mit dem Ukraine-Krieg. Er warnt, die Ukraine benötige weit mehr Munition, als derzeit in den USA und Europa produziert werden: „Die Produktionskapazitäten werden erst gegen Ende 2024 das Ziel von 1,4 Millionen in Europa erreichen. Darüber hinaus bleibt unklar, wann wie viel aus den USA und Europa tatsächlich geliefert werden kann. Auch mit den zusätzlichen Lieferungen der tschechischen Initiative ist zu befürchten, dass es weit unter dem Minimum liegt, was die ukrainischen Verteidiger brauchen.“

In einem anderen Abschnitt an der Bachmut-Front steht unter einem Quader aus mit Tarnnetzen überzogenem Zaungeflecht eine Panzerhaubitze Krab aus polnischer Produktion. Die Stellung liegt weiter zurückgezogen als die von Juri und Sascha. Nicht weit entfernt gab es bei einer benachbarten Stellung dennoch einen folgenschweren Einschlag der russischen Artillerie. Vier Soldaten leben in dem Ungetüm aus Stahl. Mit Hightechgeschossen beträgt die Reichweite der Krab rund 40 Kilometer. Mit Standardgeschossen können Ziele in 24 bis 30 Kilometern anvisiert werden. Die Besatzung hat den 50-Tonnen-Koloss nach dem Boxer „Tyson“ benannt. Doch der schwingt hier im Donbass zu selten die Fäuste. Denis (27) ist der Chef der Krab. Er trat 2020 in die Armee ein. „Unser Tyson hat eine mächtige Schlagkraft. Aber die Munition ist streng limitiert. Das bedeutet für viele Kameraden der Infanterie an der Front den Tod. Wir können die Russen so nicht auf Abstand halten.“

„Deren Granaten töten unserer Soldaten“

Dann ist es plötzlich wie eine Erlösung für die Krab-Besatzung: Die Feuerleitstelle versetzt sie in Bereitschaft. Vasili, 22, schleppt aus dem Munitionsbunker schon die erste über 40 Kilogramm schwere Munition heran, ein anderer Kamerad die Treibladungsbeutel, die die Reichweite der 155-Millimeter-Geschosse steigern. Sie haben kaum die Panzerhaubitze erreicht, als der Einsatz schon wieder abgeblasen wird. Denis versucht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Dann kommt eine Drohnenwarnung, und alle verschwinden im Bauch der Krab.

Der Mann, der diesen Einsatz wieder zurückgerufen hat, sitzt wenige Kilometer entfernt in einem Kommandopanzer. Unteroffizier Vitali berichtet: „Unsere Munition ist begrenzt. Und wir müssen eine harte Priorisierung vornehmen“, sagt der 26-Jährige. „Um alle militärischen Ziele unter Beschuss zu nehmen, reicht die Munition nicht. Also sortieren wir die Ziele aus. Selbst Mörser dürfen wir nicht mehr unter Beschuss nehmen. Doch deren Granaten töten unserer Soldaten“, sagt er. So sehe er Drohnenaufnahmen von russischen Soldaten, die sich in aller Ruhe unter freiem Himmel treffen. „Sie schütteln sich die Hände, spazieren herum. 600 Meter von der Front entfernt.“