Viele Frauen in der Ukraine protestieren gegen den Einsatz ihrer Männer im Krieg. Auch Marianna will die Last gerechter verteilt sehen: Ihr Ehemann Vitaliy steht seit zwei Jahren an der schwer umkämpften Front.

Der Krieg hat seine Spuren auf dem Körper von Vitaliy hinterlassen. Im linken Unterarm haben die Splitter Fetzen aus dem Fleisch gerissen. Jetzt zieht sich die Haut über Wellen in der Muskulatur. Auch auf dem Oberarm sind tiefe Narben nach einer Verwundung geblieben. Vitaliy hat wieder Muskeln aufgebaut, doch der Arm bleibt etwas ungelenk. Nicht einmal die Reha-Zeit wollte er nach seiner Verwundung ganz ausschöpfen und meldete sich schnell wieder an die Front zur 63. Brigade zurück.

 

Der 33-Jährige zieht sich etwas steif seinen Wintermantel an, wirft den Träger mit den schusssicheren Platten über und setzt seinen Helm auf. Der Bunker ist ein schmaler Raum, in den Boden gegraben. An den Seiten trennen Holzplatten das Erdreich von den drei Hochbetten. Zwischen den Betten ist gerade Platz für einen Mann zum Stehen. Über die Balken der Decke des Bunkers zieht sich eine weiße Plastikplane, die herabfallende Erdbrocken auffängt. Ein kleiner Bollerofen spendet Wärme für die sechs Soldaten, die hier leben. „Holz zum Heizen haben wir ja zum Glück genug“, meint der Soldat.

Russische Mörsergranaten erreichen seine Stellung im Wald

Dann geht es aus dem Erdbunker an die frische Luft mitten in einem Kiefernwald. Der Schnee knirscht unter den Stiefeln. Aus der Ferne hört man die Einschläge von Granaten. Einige Kilometer entfernt. Dort, wo sich die Schützengräben ziehen, dort, wo die Linie null ist. Dann das Hämmern eines Maschinengewehrs. Schon näher, aber weit genug entfernt. Vitaliy lauscht nur kurz. Vermutlich gilt es einer Drohne.

Weil Vitaliy mit seinem Arm gehandicapt ist, will ihn sein Kommandant Dymtro nicht in den Schützengraben lassen. So bewacht Vitaliy im Wald dahinter einen Kommandobunker, der ebenfalls ins Erdreich gegraben ist. Vier Stunden Wache, acht Stunden Ruhezeit, vier Stunden Wache . . . So geht es seit Monaten sieben Tage in der Woche rund um die Uhr. Bei Wind, Regen, im Winter bei Schnee und einer Kälte, die oft ins Gesicht schneidet. Der Stellungskrieg ist schon lange Alltag hier im Osten der Ukraine, irgendwo nahe Kreminna.

Vitaliys Aufgabe ist gefährlich genug. Russische Mörsergranaten erreichen seine Stellung im Wald. Ganz zu schweigen von den Granaten der Panzer und der schweren Artillerie. Ein Blick in die Bäume rund um Vitaliys Bunker erzählt vom Beschuss. Kiefern, die die Einschläge umgerissen haben, liegen keine 20 Meter entfernt auf dem schneebedeckten Waldboden. Zersplitterte Stämme ragen direkt neben dem Bunker auf. Der Tod kann jederzeit kommen. Schnell, ohne Vorwarnung. Vor dem benachbarten Erdbunker haben Soldaten eine Tanne in den Boden gerammt, um den Eingang zu tarnen. „Drohnen sind ein Problem. Wir müssen für sie unsichtbar sein“, sagt der 33-Jährige.

„Ich kämpfe für die Ukraine, ich kämpfe für die Zukunft meiner Familie“

Vitaliy hat sich eine Aufgabe gesetzt. Er bekocht seine Kameraden. Kochen ist Vitaliys Berufung. Er arbeitete einst in leitender Position in einer Restaurantküche. „Ukrainische und italienische Küche, quasi Pizza und Borscht“, erzählt er und lacht. Dann half er als Experte bei Restaurantgründungen.

„Es lief gut, bis die Invasion der Russen begann. Ich meldete mich bei der Armee“, sagt er. Dann hält er kurz inne, bevor er von seinem sechsjährigen Sohn Tykhon erzählt. Holt sein Smartphone heraus, zoomt mit den Fingern das Foto von Frau Marianna und seinem Sohn auf. Ein Selfie, das die beiden ihm geschickt haben. „Wie sie mir fehlen“, sagt der Familienvater in Kampfmontur. Viermal für je zwei Wochen hat Vitaliy seit März 2022 insgesamt seine Familie bei Heimaturlauben gesehen.

Trotzdem würde er sich wieder freiwillig zur Armee melden, wie er es kurz nach Beginn der groß angelegten Invasion 2022 tat. „Was uns blüht, wenn Russland uns besetzt? Das sahen wir in Butscha, Irpin, Izjum, Cherson – überall wurden nach der Befreiung Massengräber gefunden. In den besetzten Gebieten wird gefoltert und gemordet. Die Menschen sind rechtlos. Ich liebe die Freiheit. Darum kämpfe ich. Ich kämpfe für die Ukraine, ich kämpfe für die Zukunft meiner Familie“, erklärt der Koch in Uniform.

„Schon fast zwei Jahre verzichten wir auf unseren Vitaliy“

Dann ist es Zeit für einen kurzen Anruf bei seiner Frau. Er hat gerade Ruhezeit. Das Onlinesignal von der nächsten Satellitenschüssel ist gut genug für eine Audio-Übertragung. Als er die Stimme seiner Frau hört, spielt ein Lächeln um Vitaliys Gesicht.

Marianna wohnt mit ihrem Sohn und der Mutter in einem Hochhaus im Osten Kiews. „Ich habe zwiespältige Gefühle, dass mein Mann an der Front steht. Ich weiß, es ist gut und richtig, dass er uns verteidigt. Ich bin stolz auf ihn. Aber als seine Frau habe ich Angst um sein Leben.“

Dass die großen Erfolge bei der Offensive ausblieben, dass die russische Armee wieder zur Gegenoffensive ansetzt, trifft die Menschen in der Ukraine hart. „Uns allen ist klar, das bedeutet wohl, dass der Krieg noch lange weitergeht“, sagt Marianna. Darauf bereitet auch Präsident Wolodymyr Selenskyj das Volk vor. „Schon fast zwei Jahre verzichten wir auf unseren Vitaliy. Wenn alles gut geht, reicht die Qualität der Verbindung, dass wir uns einmal am Tag kurz sprechen können. Klappt ein Videochat, ist das wie ein Geschenk. Aber eher kommt es vor, dass nicht mehr als Textnachrichten möglich sind“, erzählt Marianna. Ihr Sohn Tykhon ist ein Junge mit ernsten Augen. Stolz zeigt er das Foto, das im kleinen Magnetrahmen an dem Kühlschrank hängt. Vater und Sohn strahlen da bei einem Zoobesuch. „Von den 29 Kindern in Tykhons Schulklasse kämpft nur sein Vater. Das ist ungerecht“, klagt Marianna.

„Warten und Hoffen, das ist das Schicksal einer Soldatenfrau“

In der Ukraine läuft nach nunmehr bald zwei Jahren seit Beginn der groß angelegten russischen Invasion eine schmerzhafte gesellschaftliche Diskussion. Die Notwendigkeit der Kämpfe stellt praktisch niemand infrage. „Ein möglicher Waffenstillstand würde nur Putin in die Karten spielen“, das ist breiter gesellschaftlicher Konsens. Doch bei aller Wut auf Russland, Patriotismus sowie Freiheitsliebe: Es ist ein großer Schritt, dafür sein Leben zu riskieren. Das womöglich für Jahre. Es melden sich nicht mehr ausreichend Freiwillige für die Front. Also muss verstärkt die Einberufung greifen.

Doch gerade die Frauen der aktiven Soldaten fordern, dass der Dienst zeitlich begrenzt sein und auf mehr Schultern verteilt werden sollte. Laut Selenskyj ersucht die Armeeführung zudem um bis zu 500 000 neue Soldaten bei einer derzeitigen Truppenstärke von 820 000. Neben der Herausforderung der Finanzierung würde das neue unpopuläre Rekrutierungswellen bedeuten. Selenskyjs Ende vorigen Jahres geplante Verschärfung der Einberufungsgesetze ist unter anderem auch deshalb im Parlament auf Widerstand gestoßen – und bislang noch nicht umgesetzt worden.

„Ja, wir müssen unser Land verteidigen. Aber der Einsatz dafür muss gerecht verteilt sein“, betont Marianna. „Drei Tage hatte ich nichts von Vitaliy gehört, als er damals verwundet wurde. Dann eine Männerstimme am Telefon: ,Vitaliy ist außer Lebensgefahr. Kommen Sie in die Klinik nach Dnipro.‘ Mehr wusste ich nicht auf dem ganzen Weg von Kiew nach Dnipro. Warten und Hoffen, das ist das Schicksal einer Soldatenfrau.“