Das neue Schlüsselwort heißt Konsens: Recep Tayyip Erdogan hat die Wahl erneut gewonnen, die Bürger will er künftig besser einbinden.

Istanbul - Es schienen gleich zwei Erdogans zu sein, die sich da am Sonntagabend im gleißenden Scheinwerferlicht auf den Balkon des Hauptquartiers des Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) von den jubelnden Anhängern feiern ließen. Da war der alte Erdogan, der stolz erklärte, jeder Zweite habe ihm seine Stimme gegeben. Der strahlende Wahlsieger, der weit über den von Feuerwerksraketen erleuchteten Platz hinausblickte und die Völker des Irak, Syriens, des Libanon, Tunesiens und Ägypten grüßte: "Sie alle blicken auf uns." So kennt man Erdogan: als "Führer der Welt", wie ihn seine Anhänger feiern, oder als "Sultan", wie seine Kritiker verächtlich sagen. Aber auf dem Balkon stand auch ein neuer, ein bescheidener Erdogan. Rund fünf Millionen Wählerstimmen hat er gegenüber 2007 hinzugewonnen, und dennoch zieht seine AKP mit weniger Abgeordneten als damals in die neue Nationalversammlung ein.

 

326 Sitze: das ist deutlich weniger als die Zweidrittelmehrheit von 367 Mandaten, die Erdogan als Wahlziel ausgegeben hatte. "Unsere Verantwortung ist gewachsen, und mit ihr unsere Demut", sagte Erdogan. Einen ähnlich hohen Stimmenanteil hat zuletzt die konservative Gerechtigkeitspartei 1965 erzielt. Erdogan hat groß gewonnen, aber er hatte noch mehr erhofft. Außer ihm können eigentlich alle mit diesem Wahlergebnis zufrieden sein: Die Republikanische Volkspartei (CHP) konnte unter ihrem neuen Führer Kemal Kilicdaroglu gegenüber 2007 rund 3,5 Millionen Stimmen hinzugewinnen, steigerte sich von 21 auf 26 Prozent und wird im neuen Parlament 135 statt bisher 112 Mandate haben. Die nationalistische MHP kann darauf verweisen, dass sie trotz kompromittierender Sex-Videos ihre Stärke nahezu halten konnte und den Wiedereinzug ins Parlament schaffte. Und die pro-kurdische BDP, die ihre Bewerber als unabhängige Kandidaten ins Rennen schickte, um die Zehnprozenthürde zu unterlaufen, hat ihre Sitze von 21 auf über 30 steigern können.

Alle Türken sollen "Bürger erster Klasser" werden

Zufriedene Gesichter dürfte es auch in türkischen Wirtschaftskreisen geben: Erdogan kann weiterregieren und damit seine erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik fortsetzen, zugleich aber muss er seine Pläne, die Verfassung nach eigenem Gutdünken zu ändern und sich selbst zum allmächtigen Staatschef aufzuschwingen, erst einmal begraben. Konsens heißt nun das Schlüsselwort, das auch Erdogan in der Wahlnacht gebrauchte: er interpretiert zwar den Wahlsieg als Mandat für eine Verfassungsreform, "aber die Botschaft der Wähler ist, dass wir dies zusammen mit den anderen Parteien machen sollen", sagte Erdogan. "Wir werden auf die Opposition zugehen, werden sie konsultieren und einen Konsens suchen". Auch außerparlamentarische politische Gruppierungen, Nichtregierungsorganisationen, Akademiker, "alle die etwas zu sagen haben", will Erdogan in die Verfassungsdebatte einbinden.

Von dem neuen Grundgesetz verspricht er "erweiterte Rechte und Freiheiten, ein höheres Niveau der Demokratie". Die künftige Verfassung, so Erdogan, werde alle Türken zu "Bürgern erster Klasse" machen - ein Versprechen, dass sich vor allem an die kurdische Minderheit richtet. Gleich nach der Sommerpause, im September, werde das Parlament mit den Arbeiten an der neuen Verfassung beginnen, kündigte der stellvertretende AKP-Vorsitzende Hüseyin Celik gestern an. In der Reform liegt eine historische Chance für die Türkei. Nachdem Erdogan die Macht der Armee bereits weitgehend gebrochen hat und nach diesem Wahlsieg gegenüber den Generälen weiter gestärkt dasteht, kann sich das Land nun auch des Erbes der Militärdiktatur entledigen, denn aus ihrer Ära stammt das geltende Grundgesetz. Eine neue Verfassung könnte auch der europäischen Integration der Türkei neue Impulse geben.