Seit es Menschen gibt, sehnen sie sich nach Siegertypen – nach fiktiven mehr noch als nach realen. In der Antike hießen sie Achill oder Hektor. Heute nennen sie  sich Wonder Woman, Captain America oder Iron Man. Doch es braucht nicht nur Superhelden im Kino, sondern Helden im echten Leben. Plädoyer für mehr Heldenmut im Alltag.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Seid super und tragt Capes! Der 28. April ehrt seit 1995 all die Superhelden dieser Welt. Zumindest in den USA, die dieses Datum als landesweiten „National Superhero Day“ (Tag der Superhelden) feiern. Weshalb sollen wir an diesem Termin im April also die Superhelden feiern? Ein Plädoyer für mehr Heldenmut im Alltag.

 

Sprechblasen-Abenteuer von Rettern und Schurken

Kennen Sie Wonder Woman und die anderen Helden aus dem Marvel- und DC-Universum? Jene fantastische Welt von Spider-Man, Thor, Iron Man, Captain America und Wolverine, Batman, Superman und Green Lantern. Seit den 1930er Jahren veröffentlichen die beiden US-Verlagsriesen Sprechblasen-Abenteuer von Rettern und Schurken, die allesamt außergewöhnlich sind. Auch im Kino sind die Weltenretter längst omnipräsent.

Seit dem Erfolg der „Batman“- (ab 1989) und „X-Men“-Saga (ab 2000) erscheinen immer neue Superhelden-Abenteuer. Verfilmungen von DC- und Marvel-Comics werden in den meisten Fällen Kassenschlager.

Erste italienische Edition von Marvel comic books (1970/71): Cover von Hulk, Daredevil, Spider-Man, Thor, Fantastic 4 und Captain America. Foto: Imago/Pond5 Images

Leben wir in einer postheroischen Gesellschaft?

In der Realität sieht die Sache mit den Helden etwas anders aus. Wir leben in einer „postheroischen Gesellschaft“, stellt der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler fest. Nach zwei von ihnen entfachten Weltenbränden sind vor allem die Deutschen des Heldentums überdrüssig. Sie haben genug von Heroen und Heroismus, falschem Pathos und Heldenlügen. Ganze Generationen ließen sich von skrupellosen Herrschern und brutalen Diktatoren instrumentalisieren, im Namen menschenverachtender Ideologien in den Tod schicken und zu Mittätern an unvorstellbaren Menschheitsverbrechen machen.

Der Philosoph Jürgen Habermas erklärte wenige Monate nach den Terroranschlägen von Islamisten auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001: „Mir scheint, dass sich, wo immer ‚Helden‘ verehrt werden, die Frage stellt, wer das braucht – und warum.“

„Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“

Stimmt es, was Bertolt Brecht den Physiker Galileo Galilei in seinem Theaterstück „Leben des Galilei“ sagen lässt? „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat!“

Andererseits ist die Sehnsucht nach Helden dem Menschen immanent. Helden zu haben, ist dem Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz zufolge ein Privileg der Jugend. „Man ist genau so lange jung, wie man Helden hat, die man verehrt.“ Wer keinen Helden hat, lebe ein Leben, „das nicht lebenswert ist“.

So selten es schon wahre Helden unter den Menschen gibt, so unmöglich ist es, Superhelden unter ihnen zu finden. Denn sie existieren nur in der Fiktion. Ihre Heldentaten sprengen die Fesseln des Daseins. Sie erfinden Dinge, die eigentlich unerfindbar sind – wie Iron Man. Mutieren vom Versager zum furchtlosen Kämpfer für das Gute – wie Captain America. Sie besitzen Fähigkeiten, über die kein Normalo verfügt – wie Wolverine, der Super-Typ aus der „X-Men“-Liga. Ein Mutant mit den Sinnen eines Raubtiers und unfassbaren Selbstheilungskräften.

Superman auf einer alten 39-Cent Briefmarke. Foto: Imago/Zuma Wire

Es ist Zeit für Helden

Die Zeit der Helden ist gekommen, wenn Unruhe, Unsicherheit und Umwälzungen herrschen. Reale Helden wie fiktive Superhelden müssen sich bewähren, wenn Gefahr im Verzug ist, Kampf, Krieg und Unheil drohen. Dass der „Krieg der Vater aller Dinge und der König aller“ ist, hat schon der griechische Philosoph Heraklit gewusst. „Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“ Und Superhelden? Sie lässt er erst hier zu ihrer wahren Bestimmung finden.

Auch wenn die deutsche Gegenwartsgesellschaft laut Herfried Münkler „postheroisch“ ist – und wegen der historischen Hypothek auch sein muss –, bedeutet dies nicht, dass die Sehnsucht nach Helden und Heldinnen ein für allemal erledigt ist. Im Gegenteil: Sie weicht aus ins Fiktionale. Fiktion und Fantasie werden durch die Wunderwelt des Kinos zur Spielweise, auf der sich Helden und Superhelden nach Lust und Laune austoben und die Welt vor Scharen von Bösewichten, Feinden und Invasoren retten können.

Helden geht es um Herz, Hingabe, Leidenschaft und Mut

In der Realität sind „Heldentaten“ und „Heldentode“ allzu oft als sinnlos entlarvt worden. In der fiktiven Welt der Mythen, Legenden und des Kinos dagegen gibt es eine „ganz andere Dialektik“, wie Bolz betont.

„Der Held ist der Outlaw, der sich als großer Mann durchsetzen kann.“ Wie Achill, der Archetyp des antiken Heros, sei er „ganz und gar in seinen Taten“. Dem Helden gehe es „um Stolz, Herz, Hingabe, Leidenschaft“. Er wägt nicht Risiko und Nebenwirkungen ab. Gefahr sei für ihn ein Abenteuer, das er sucht und in dem er seine Mission findet.

Ohne Ben Hur, El Cid, Robin Hood oder Zorro ist das Kino undenkbar. Wenn historische Helden nicht mehr ausreichen, um die Sehnsucht der Menschen zu stillen, treten Superhelden auf den Plan. „Die Helden-Figur hilft, die eigene Unzulänglichkeit zu kompensieren“, erklärt der Freiburger Soziologe Ulrich Bröckling. „Helden tun etwas, damit wir es nicht zu tun brauchen.“

Sammelkarte einer englischen Zigarettenmarke (um 1924) mit Robin Hood. Foto: Imago/United Archives

Sieg des Guten über das Böse

Was Comics und ihre Filmadaptionen für Wissenschaftler wie für Zuschauer gleichermaßen so fesselnd und spannend macht, ist, dass sie gesellschaftliche Phänomene und Trends widerspiegeln.

An globalen und regionalen Krisen mangelt es wahrlich nicht. Die Wirklichkeit ist aber zu komplex und widersprüchlich, als dass sich einfache Lösungen anbieten würden. Selbst ein Superheld wie Captain America oder eine Gruppe Unerschrockener wie die Avengers würden sich in ihrem Gestrüpp heillos verheddern und müssten zwangsläufig scheitern.

Die Fiktion macht möglich, was der Realität versagt bleibt: der Sieg des Guten über das Böse. Mit ihren Superkräften stehen Superhelden der Menschheit bei, spenden selbst in den misslichsten Lagen noch Trost und Hoffnung.

Natürlich sollte man nicht allzu viel aktuelle Bezüge und reale Probleme in die cineastischen Epen hineininterpretieren. Imaginäre Superhelden wollen unterhalten, zum Staunen anregen und „postheroische“ Bürger für einige Stunden in fantastische Welten entführen.

Die menschliche Sehnsucht nach Helden ist kaum weniger irrational und fantastisch als die Realität in den Superhelden-Filmen. Das Schöne ist, dass beide gerade deshalb so trefflich zusammenpassen und sich wundervoll ergänzen.