Anhand von Baumringen haben Forscher die Klimageschichte Europas rekonstruiert: die großen Dürren und Überschwemmungen der vergangenen 2000 Jahre. Die Analysen sollen helfen, künftige Naturkatastrophen im Klimawandel besser vorauszusagen.

Stuttgart - Die Regenfälle im Frühjahr 1315 wollten in weiten Teilen Europas einfach nicht enden, auch im Sommer des Jahres dominierten Wolken am Himmel. Zwischen Großbritannien und Frankreich im Westen sowie Weißrussland und Ungarn im Osten des Kontinents fielen die Ernten ins Wasser, nicht einmal Stroh und Heu für das Vieh konnten die Bauern trocknen. Die Dauerniederschläge verhinderten auch das Verdunsten von Meerwasser, aus dem sonst Salz gewonnen wurde. Daher konnten die Menschen das Fleisch der in der Not geschlachteten Tiere nicht haltbar machen. Zwischen 1315 und 1317 starben in einer der größten Hungersnöte Europas einige Millionen Menschen.

 

Damals mussten sich viele Kinder auf eigene Faust durchs Leben schlagen, ihre Geschichte erzählt das Märchen von „Hänsel und Gretel“ noch heute. Solche extrem feuchten – oder auch extrem trockenen – Jahre aber waren keineswegs Einzelfälle, sondern beutelten Europa in den vergangenen beiden Jahrtausenden häufiger. Das stellen jetzt Ed Cook von der Columbia University im US-Bundesstaat New York, Ulf Büntgen von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Birmensdorf im Kanton Zürich und ihre Kollegen in der Fachzeitschrift „Science Advances“ fest.

Chroniken berichten von solchen Hungerkatastrophen in weiten Teilen des Kontinents. Diese Überlieferungen wollten die Forscher mit Klimaschwankungen vergleichen. Dazu brauchen sie gute Daten, denn Wetteraufzeichnungen gibt es erst seit rund 150 Jahren – und das auch nur in einigen Regionen. Daher stützen Klimaforscher sich häufig auf indirekte Anzeiger und ermitteln die Klimaverhältnisse der vergangenen Jahrtausende aus Bohrkernen im ewigen Eis oder aus Tropfsteinen in Kalkhöhlen. „Am besten klappt aber die Analyse von Baumringen, aus denen wir für jedes einzelne Jahr zuverlässig das Klima ermitteln können“, erklärt Ulf Büntgen.

Bäume brauchen zum Wachsen neben der nötigen Temperatur vor allem Licht, Wasser und Kohlendioxid. Sie wachsen vor allem im Frühjahr und Sommer. Dabei legen sie um ihren Stamm eine neue Holzschicht an, die an der Schnittfläche eines abgesägten Baums als Ring sichtbar wird. Ist dieser Baumring dick, wuchs der Baum in diesem Jahr gut, während dünne Ringe eine schlechte Saison anzeigen. Da Licht und Kohlendioxid meist reichlich vorhanden sind, ist normalerweise Wassermangel der Grund für schlechtes Wachsen.

Auch die Holzbalken alter Häuser werden analysiert

Bei lebenden Bäumen holen sich die Forscher mit einem Bohrer Holzproben aus dem Stamm, in denen sie dann die Dicke und Form der Jahrringe unter dem Mikroskop analysieren. „Die Dichte des Holzes oder Isotopen-Analysen verraten uns weitere Klimadaten“, erklärt Ulf Büntgen. Aus den Ringen einer 200 Jahre alten Eiche in Mitteleuropa können die Forscher so das Klima der letzten beiden Jahrhunderte ermitteln. Ganz ähnlich analysieren sie auch die Jahresringe in den Eichenbalken alter Gebäude. Finden sie dort das gleiche Muster, das sie aus einem lebenden Baum kennen, sollten beide Abfolgen aus der gleichen Zeit stammen. Reichen die Baumringe dieses „historischen Holzes“ weiter in die Vergangenheit, erfahren die Forscher aus ihnen mehr über die Klimageschichte.

Mit „subfossilen Bäumen“, die zum Beispiel am Grund von Mooren oder im Kiesbett von Flüssen überdauert haben, können die Forscher noch weiter zurückblicken. Auf diese Weise gewinnen sie Klimadaten bis ins dritte Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Den Anschluss zur noch ferneren Vergangenheit liefert dann zum Beispiel Holz, das Archäologen in den Relikten des Römischen Imperiums finden.

In Skandinavien ersetzen die Baumringe aus heute wachsenden Kiefern das Eichenholz Mitteleuropas. Da altes Bauholz kaum einmal bis heute erhalten geblieben ist, bilden subfossile Kiefern aus Mooren und Seen das Klimaarchiv. „Wir verwenden für unsere Analysen eben das Holz, das wir kriegen“, fasst Ulf Büntgen die Situation zusammen. In Spanien handelt es sich dabei meist um Wacholderbäume, im Atlasgebirge von Marokko wiederum analysieren die Forscher Zedern.

Baumring-Analysen gibt es inzwischen aus vielen Regionen Europas. Die Daten von 106 solcher Zeitreihen haben Ulf Büntgen und seine Kollegen gesammelt und die Werte miteinander verglichen, die Reaktionen der Bäume auf die Bodenfeuchtigkeit und damit indirekt auf die Niederschläge zeigen. Damit erfassen die Forscher natürlich nur das Klima von Frühling und Sommer, wenn die Bäume wachsen. „Nur wenige dieser Zeitreihen reichen 1800 Jahre zurück, aus etlichen Regionen wie zum Beispiel aus Osteuropa fehlen solche Jahresring-Analysen weitgehend“, schildert Ulf Büntgen die Nachteile dieser Daten.

Die großen Dürren werden seltener

Trotz solcher Handicaps konnten die Forscher für jedes Jahr eine Europakarte erstellen, auf der sie die durchschnittlichen Niederschläge in der Wachstumsperiode im Frühjahr und Frühsommer zeigen. So zeigt die Karte von 1921 für England und weite Teile von West- und Mitteleuropa eine extreme Trockenheit. Recht ähnlich war die Situation 1893, allerdings reichte die Dürrezone in diesem Jahr bis nach Kleinasien sowie in den Süden Skandinaviens. 1741 waren Irland, Wales, Schottland und England großräumig von einer weiteren Dürre betroffen, die auch West- und Mitteleuropa bis zum Baltikum und vor allem den Süden Skandinaviens austrocknen ließ. Genau in dieser Zeit fielen 38 Prozent der 2,4 Millionen Iren einer großen Hungersnot zum Opfer. 1616 wiederum schlug die Dürre in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu, während 1315 extrem viel Niederschlag auf Großbritannien sowie auf West- und Mitteleuropa niederprasselte.

Die Niederschläge auf den Karten der Forscher schwanken von Jahr zu Jahr stark. Mittelwerte aus mehreren Jahren deuten dagegen langfristige Trends für ganz Europa an: Besonders ins Auge stechen zwei Phasen mit Superdürren um die Jahre 1500 und 1800. In der sogenannten „kleinen Eiszeit“ zwischen 1500 und 1720 schwanken die Niederschläge dagegen eher um die normalen Werte, während die Jahre ungefähr seit 1800 bis heute langsam immer feuchter wurden. Die großen Dürren scheinen also vorerst seltener zu werden.

Solche Analysen von außergewöhnlichen Witterungsperioden der Vergangenheit verbessern auch den Blick in die Zukunft: Erfassen doch die allermeisten Klimamodelle gerade solche extremen Ereignisse bislang kaum. Dürren und Dauerregenfälle wiederum treffen die Menschen nicht nur mit Hungersnöten, sondern auch mit Wassermangel und Überschwemmungen unmittelbar. Liefert der Blick in die Vergangenheit Hinweise, in welchen Regionen solche extremen Witterungsperioden in Zukunft häufiger auftreten dürften, können sich die Betroffenen besser vorbereiten und so die Schäden verringern.