Wenn sämtliche Streaming-Plattformen durchgespielt sind, braucht es neue Lockdown-Beschäftigungen. Lest doch mal wieder ein Buch! Unsere Stadtkind-Redakteurinnen haben einige Tipps für euch parat.

Stadtkind: Laura Müller-Sixer (six)

Stuttgart - Lesen ist während des Lockdowns zum absoluten Hype-Thema geworden – ähnlich wie Stadtspaziergänge und gedrehte DIY-Kerzen. Die Stuttgarter haben sogar so fleißig bei den lokalen Buchhändlern eingekauft, dass viele Geschäfte vor Weihnachten gar keine Bestellungen mehr annehmen konnten. Vorbildlich! 

 

Da wir Stadtkinder der Meinung sind, dass Lesen generell eine der besten Beschäftigungen überhaupt ist, haben wir selbst einmal in unsere Bücherregale gegriffen. Hier sind einige Tipps und "Must-Reads", die wir euch nicht vorenthalten wollen. 

Bücher-Tipps der Stadtkind-Redaktion

"Frausein" - Mely Kiyak 

Was bedeutet Frausein? Was bedeutet Fremdsein? In ihrem autobiografischen Roman erzählt Mely Kiyak vom Aufwachsen als Kind einer kurdischen Migrantenfamilie in einem Deutschland, das Diskurse über Gastarbeiter mit Günter Wallraffs „Gastarbeiter Ali“ verhandelt und zu den eigentlichen Protagonisten keinen Zugang findet. Kritisch, klug und sanft stellt sie in einer Mischung aus zärtlichen Erinnerungen und gesellschaftlichen Analysen die Frage nach dem Glücklichsein als Frau, die eigentlich nur schreiben will, und sich so ihren Diskurs zurückerobert.  

Es sind kleine und große Befreiungen, etwa von der überbordenden Liebe ihres Vaters, und die Beschreibung ihrer Reise zu sich selbst, die diese autobiografische Prosa auszeichnen und Wucht verleihen. So ist ihre Augenkrankheit der erzählerische Bogen, der Selbst- und Fremdwahrnehmung, Sinnlichkeit und Leidenschaft jenseits von Stereotypen zurücklässt. Welche Frauenrolle soll man annehmen, wenn man keinen Ehemann, keine Kinder und kein Haus haben will? Kiyak hat ihre Antwort nach dem Glück als Frau gefunden: „Auf die ehrlich an mich selbst gestellte Frage, womit ich am zufriedensten und ruhigsten war, lautet die Antwort: Mit mir. Einfach nur mit mir“. 

"Conversations with Friends" - Sally Rooney

Ja, der Hype ist real und absolut berechtigt: Sally Rooney schreibt großartige Geschichten, die man nicht mehr aus der Hand legen kann. „Conversations with Friends“ ("Gespräche mit Freunden") ist ihr Romandebüt und handelt von den Freundinnen Frances und Bobbi, die das zehn Jahre ältere Ehepaar Melissa und Nick kennenlernen. Bei Events, Kochabenden, Online- sowie Offline-Gesprächen kommt man sich näher. Bobbi ist fasziniert von Melissa, Frances von Nick – und so menschelt es im Roman zwischen Liebe, Untreue, Intimität und Genderrollen. 

Und wenn ihr einmal im "Rooney-Fieber" seid, könnt ihr direkt mit "Normal People" ("Normale Menschen") weitermachen. Davon gibt es übrigens auch eine Serie auf Amazon Prime mit großartiger Besetzung!

The Fran Lebowitz Reader 

Huch, plötzlich taucht überall Fran Lebowitz auf. Unzählige Bilder auf Instagram, die amerikanische Vogue analysiert ihren Kleidungsstil, deutsche Bloggertanten preisen sie als Feminist Icon in Männerhemden – und ich sitze ratlos auf dem Sofa und frage mich, ob die kluge Alltags- und Gesellschaftsbeobachterin hoffentlich nicht verstorben ist. Zum Glück ist es nur ein Hype und Schuld daran trägt Netflix, oder besser gesagt Martin Scorsese, der die 70-jährige Schriftstellerin in der Reihe "Pretend It's A City" von überbordendem Zigarettenkonsum, ihrer Kindheit und vor allem von New York erzählen lässt.  

Irgendwie kann man sogar froh sein, dass die unwahrscheinlich schlaue und unterhaltsame Kulturkritikerin es nun auch in den Mainstream geschafft hat. Schnell suche ich ihren abgenudelten Vintage-Reader aus meinem Regal und erfreue mich an ihren sozialen Studien und Kurztexten, die Titel wie „How not to marry a Millionaire“, „When smoke gets in your eyes.. shut them“ tragen. Ich bin mir sicher, dass Lebowitz den neu entflammten Hype um sich hassen wird.  

"Untamed" - Glennon Doyle

Mit Listen-Bestsellern ist das ja immer so eine Sache, vor allem, wenn es sich um einen Weisheiten-Ratgeber handelt. Innovativ oder doch eher Kalenderspruch-Niveau? Untamed ist für mich ein Buch, das wir alle unseren Müttern schenken sollten. 

Glennon Doyle ist Autorin, Aktivistin, Speakerin, Mutter und vor allem eine Frau, die immer versucht hat, gut zu sein: eine gute Tochter, eine gute Freundin, eine gute Ehefrau. Bis sie sich eines Tages Hals über Kopf in eine Frau verliebt und endlich beschließt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Untamed („Ungezähmt“) beleuchtet die gesellschaftlichen Erwartungen an das Frausein und stellt die Frage: Wer bist du wirklich? Aufgeteilt in viele kleinere Kapitel erzählt Glennon, wie sie zurück zu sich selbst gefunden hat und teilt Anekdoten und Schlüsselmomente auf ihrem Weg dahin. Ich musste das Buch immer wieder kurz zur Seite legen und innehalten. Holt die Notizbücher raus und schreibt auf, was es mit euch macht!

"Titles" - Lisa Mühleisen 

Jeder, der mit Sprache kontextuell oder theoretisch arbeitet, wird es kennen: Man sucht nach Wörtern, Sätzen und Titeln, streicht sie durch, notiert sich Versatzstücke und plötzlich entsteht ein dadaistisch anmutendes Gewirr aus Zeichen, das man dann doch wieder verwirft. Doch diese Fragmente können auch eigene Geschichten erzählen und wahnwitzige Interpretationen zulassen, besonders wenn sie künstlerische Arbeiten betiteln sollen: Die Stuttgarter Künstlerin Lisa Mühleisen hat Titel, die sie für ihre Arbeiten verwendet hat, die sie verworfen hat und Titel, die sie vielleicht noch verwenden wird, in ein in rosa Leinen (wunderbar) gebundenes Schmuckstück verwandelt. In sechs Kategorien lädt Mühleisen ein, ihre Arbeiten auf eine etwas andere Art zu überblicken. Peinliche Wortspiele hat die Künstlerin natürlich durchgestrichen. 

"Superbusen" - Paula Irmschler

"Gisela zieht nach Chemnitz, um neu anzufangen. Die Stadt ist für die Anfang Zwanzigjährige ein Versprechen. Endlich studieren, sich finden, weg von der Familie und all den anderen Menschen, die sie nicht versteht und die sie nicht verstehen. Ihren Körper und ihre Gedanken aber nimmt sie mit. Doch in Chemnitz gibt es die Freundinnen, die die Welt nicht so akzeptieren wollen wie sie ist. Zusammen gehen sie auf Demonstrationen, betrinken sich, versuchen, über die Runden zu kommen und gründen eine Band: Superbusen. Bei ihren Konzerten entdecken sie das erste Mal das Konstrukt Ost und West, was sie als Frauen zusammenhält und trennt und die Macht der Musik." 

Für mich persönlich ist Superbusen einer der popkulturellen "Super"-Romane des vergangenen Jahres. Paula Irmschler erzählt die Geschichte von einer jungen Frau, die sich und ihren Platz noch nicht so richtig gefunden hat. Dabei zeichnet sie nicht nur ein grandioses Bild (m)einer Generation, sondern auch der Stadt Chemnitz – für mich als „Ostkind“ sehr relatable. Witzig, politisch und melancholisch! Oh, und am Ende hat man einen Ohrwurm von Bosse, nur so als kleine Vorwarnung!