Dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu drohen in einem Verfahren, das an diesem Donnerstag beginnt, sieben Jahre Haft. Es geht dabei um den Versuch, einen möglichen Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdogan zu stoppen.

Das hohe Gut der Freiheit würdigte Ekrem Imamoglu am Dienstag. Der Istanbuler Bürgermeister legte am türkischen Nationalfeiertag, an dem der ersten Parlamentseröffnung der modernen Türkei im Jahr 1920 gedacht wird, auf dem Taksim-Platz im Stadtzentrum einen Kranz nieder. Die persönliche Freiheit und die Meinungsfreiheit gehörten zum Erbe des ersten Parlaments und des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk, sagte Imamoglu anschließend vor Journalisten.

 

Die Teilnahme an der Zeremonie am Taksim gehört zu Imamoglus Aufgaben als Stadtoberhaupt, doch seine Botschaft von Freiheit hatte an diesem Tag einen besonderen Unterton: Imamoglu muss sich ab diesem Donnerstag in einem Strafverfahren verantworten, das ihn für sieben Jahre ins Gefängnis bringen und seine politische Karriere beenden könnte.

Schaden von rund 7000 Euro

In dem Verfahren vor einem Istanbuler Gericht geht es um Imamoglus Zeit als Bürgermeister des Stadtteils Beylikdüzü im Westen der türkischen Metropole. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, vor neun Jahren eine öffentliche Ausschreibung manipuliert und dem Staat damit einen Schaden von umgerechnet 7000 Euro zugefügt zu haben. Die Anklage fordert für die insgesamt sieben Angeklagten bis zu sieben Jahre Haft; bei einer Verurteilung müsste Imamoglu, der Istanbul seit 2019 regiert, alle Ämter abgeben und dürfte nicht mehr für ein politisches Amt kandidieren.

Die türkische Opposition vermutet, dass der Prozess gegen den 53-Jährigen ein Versuch der regierungstreuen Justiz ist, Imamoglu aus dem Weg zu räumen. Der Istanbuler Bürgermeister hatte bei der Kommunalwahl vor drei Wochen seinen Posten gegen den Kandidaten der Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan verteidigt und ist der beliebteste Oppositionspolitiker des Landes. Bei der nächsten Präsidentenwahl in vier Jahren könnte er Erdogan schlagen, hofft Imamoglus Partei CHP. Imamoglu macht keinen Hehl aus seinem Ziel, Präsident zu werden. Umfragen bescheinigen ihm gute Chancen, Erdogan zu besiegen.

Regierung hat viel Einfluss auf Gerichtsurteile

Der Verdacht, der Präsident setze die Justiz ein, um Imamoglu loszuwerden, kommt nicht von ungefähr. Die Regierung hat viel Einfluss auf Gerichtsurteile, weil sie die Besetzung von Richter- und Staatsanwaltsposten kontrolliert. Das Verfahren gegen Imamoglu wegen der Ausschreibung in Beylikdüzü begann voriges Jahr nach einer Untersuchung von Sonderinspektoren aus Erdogans Innenministerium. Und es ist nicht das einzige Gerichtsverfahren gegen Imamoglu. Ende 2022 wurde er in einem anderen Prozess zu zweieinhalb Jahren Haft und einem Politikverbot verurteilt, weil er angeblich Mitglieder der türkischen Wahlkommission als „Idioten“ beleidigt hatte. Die Entscheidung des Berufungsgerichtshofs über das Urteil steht noch aus.

Daneben kamen seit 2019 noch eine ganze Reihe weiterer Prozesse und Ermittlungsverfahren gegen Imamoglu in Gang. In einem Fall ermittelt das Innenministerium mit der Begründung, Imamoglu habe sich bei einer Feierstunde „respektlos“ verhalten, indem er die Hände hinter dem Rücken verschränkte. Die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ zählte insgesamt zehn Verfahren gegen den Bürgermeister.

Auch Erdogan wurde ins Gefängnis gesteckt

Es wäre nicht das erste Mal in der Türkei, dass ein beliebter und ehrgeiziger Politiker von der Justiz gestoppt werden soll. Im Jahr 1998 wurde Erdogan als Istanbuler Bürgermeister unter fadenscheinigen Gründen für zehn Monate ins Gefängnis gesteckt und mit einem Politikverbot belegt. Nicht einmal Ortsvorsteher könnte Erdogan noch werden, höhnte die Presse damals, doch Erdogan ließ sich nicht aufhalten. Fünf Jahre nach seiner Haftstrafe war er an der Macht.

Heute würde Erdogans Regierung ein hohes Risiko eingehen, wenn sie versuchen sollte, Imamoglu mit einem Gerichtsurteil aufzuhalten. Die Niederlage der AKP bei den Kommunalwahlen im März zeigte, dass sich selbst Stammwähler wegen der schlechten Wirtschaftslage und wegen Korruption und Selbstherrlichkeit der Regierung von Erdogans Partei abwenden. Den beliebtesten Oppositionspolitiker einzusperren, statt die nötigen Reformen einzuleiten, könnte für die Regierung nach hinten losgehen, meint Soli Özel, Politikwissenschaftler an der Kadir-Has-Universität in Istanbul. Imamoglu würde zum politischen Märtyrer und könnte seine Beliebtheit vermutlich noch steigern.