Im Umgang mit den Angehörigen der Opfer vom Berliner Weihnachtsmarkt hat der Staat versagt. Sie mussten teils um Auskunft betteln und bekamen kaum Anteilnahme. Die Behörden wollen nun daraus lernen.

Stuttgart - Der Staat hat die Hinterbliebenen der Opfer, die Verletzten und die Helfer vom Breitscheidplatz an vielen Stellen alleinegelassen. Das geben verantwortliche Politiker inzwischen zu – und setzen nun seit Monaten einiges daran, aus den verheerenden Fehlern zu lernen: So machte sich zum Beispiel der Berliner Innenstaatssekretär Thorsten Akmann nach Israel auf, um von dortigen Erfahrungen in der Nachsorge von Terroropfern zu profitieren. Der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Kurt Beck, hat in dieser Woche die Versäumnisse gegenüber den Hinterbliebenen und Angehörigen in seinem Abschlussbericht aufgelistet.

 

Zuvor war es den Betroffenen überlassen geblieben, die Stimme zu erheben. In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel listeten sie unlängst die Unsäglichkeiten und die Lücken in der Versorgung auf, mit denen sie zusätzlich zu ihrem bitteren Verlust zu kämpfen hatten und haben. Zu dem, was nicht wiedergutzumachen ist, gehört zum Beispiel, dass die Staatsspitzen sich am Tag nach dem Terroranschlag zu einem Gottesdienst in der Gedächtniskirche trafen, während viele Betroffene noch nicht wussten, ob ihre Angehörigen unter den Opfern sind. Menschen, die verzweifelt nach ihren Liebsten suchten, wurden an Telefonen und in Kliniken abgewiesen, erhielten keine Auskunft. Der Grund war eine harte Informationssperre des Bundeskriminalamtes bis zur sicheren Identifizierung der Opfer.

Die Angehörigen mussten teils über 36 Stunden auf Auskunft warten

Das sachliche Problem: Für die Identifizierung gilt ein internationaler Standard, vorher darf streng genommen nicht informiert werden. In der Praxis verschärft das aber die Horrorsituationen bei Betroffenen. Den Behörden in Berlin fehlte beim ersten großen Terroranschlag die Sensibilität, in der Phase der Unklarheit über Identitäten mit Angehörigen möglicher Opfer umzugehen, ohne sie auszuschließen. Die Berliner Angehörigen klagten darüber, dass sie bei der Vermisstenstelle der Polizei strandeten und teilweise über 36 Stunden keinerlei Auskunft bekamen. Sie suchten dann allein Krankenhäuser ab.

Solche und andere Fehler hat der Berliner Innensenat in Absprache mit dem Bundesinnenministerium in einer Checkliste für die Bundesländer aufgelistet, die abgearbeitet werden soll, damit sich das nicht wiederholt. Zu den Maßnahmen in dem Papier, das unserer Zeitung vorliegt, gehören Dinge, die man eigentlich für selbstverständlich halten müsste, bei denen es aber offensichtlich bislang kein festgelegtes Prozedere gibt: Dazu gehört zum Beispiel die systematische Erhebung von Identitäten und Staatsangehörigkeiten auch von Verletzten in Krankenhäusern nach einem einheitlichen Verfahren. Es soll auch nur eine zentrale Liste mit verletzten, vermissten oder getöteten Personen geführt werden. Auch zentrale Ansprechpartner fehlten. Bundesweit soll es nun für die akute Phase eine einheitliche Notfallnummer geben – für Angehörige, aber auch für Zeugenwahrnehmungen und Nachfragen. Ein bundesweit einsetzbarer Pool geschulter Mitarbeiter soll gebildet werden, im Fall hoher Opferzahlen aus dem Ausland sollen Verbindungsbeamte des Auswärtigen Amtes einbezogen werden.

Notfallseelsorger und Opferbeauftragter wussten nichts voneinander

Die Angehörigen berichteten in ihrem Brief, es habe sich von offizieller Seite niemand um sie gekümmert – nach 22 Tagen habe es ein Schreiben des Bundesjustizministers gegeben, das nicht einmal alle Angehörigen ersten Grades erreicht habe. In seinem Bericht erläutert der Opferbeauftragte Beck auch, wie unterschiedliche Familiennamen oder Lebenspartnerschaften, die nirgendwo verbrieft waren, zu diesen Verzögerungen beitrugen.

Das Land Berlin hat als erstes und bisher einziges Bundesland aus all diesen bitteren Erfahrungen nach dem Anschlag die Konsequenz gezogen, eine zentrale Anlaufstelle für Opfer von terroristischen Anschlägen und auch anderen Großschadensereignissen einzurichten. Die Stelle wird bewusst nicht an die Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden angegliedert, weil im Akutfall hier alle Kräfte für andere Aufgaben herangezogen werden.

In Berlin ist die Verbraucherschutzverwaltung zuständig. Ein vierköpfiges interdisziplinäres Team soll bis Anfang kommenden Jahres aufgestellt sein und ein rund um die Uhr tragbares Bereitschaftsnetz organisieren. Hier sollen bereits vorhandene Beratungsangebote verknüpft werden, was bisher schlicht nicht der Fall gewesen ist. Es mag undenkbar klingen, aber nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz stellten die Notfallseelsorger und der Opferbeauftragte der Hauptstadt fest, dass sie nicht einmal voneinander gewusst hatten. Die Stelle soll nun die vorhandenen Angebote koordinieren, sie soll Beratungseinrichtungen vorinformieren und den Betroffenen schnell und unbürokratisch auf der Suche nach Hilfe zur Seite stehen.

Beck sprach bei Spendenorganisationen vor

Dies gilt auch für die Unterstützung der Angehörigen dabei, Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz oder alle anderen Rechtsfragen zu regeln. Auch die Kommunikation, zwischen Bund und Land, mit Krankenhäusern, und die Öffentlichkeitsarbeit sollen von hier aus verbessert werden.

Die finanzielle Entschädigung der Opfer und die existenzielle Absicherung der Hinterbliebenen ist ein derzeit noch ungelöstes Thema auf der langen Liste der Kritikpunkte. Derzeit wird eine einmalige Erstzahlung in Höhe von 10 000 Euro entrichtet, die aus Sicht des Opferbeauftragten Beck deutlich zu niedrig liegt. Beck habe, so berichteten die Angehörigen in ihrem offenen Brief, bei Spendenorganisationen antichambrieren müssen, um in manchen Fällen zu helfen.

Die Hinterbliebenen fordern auch dringend eine Änderung des Opferentschädigungsgesetzes sowie die Aufstockung und Ausweitung von Rentenansprüchen. Für das Opferentschädigungsgesetz liegt seit Anfang dieses Jahres ein Änderungsvorschlag im Bundestag zur Abstimmung vor, der aber bisher nicht beschlossen worden ist. Politiker aller Parteien hatten diese Verzögerung vor allem mit Blick auf den Anschlag vom Breitscheidplatz kritisiert.