Er war Kanzler der deutschen Einheit und Ehrenbürger Europas. Helmut Kohl hat länger amtiert als sein Idol Konrad Adenauer. Trotz vieler Querelen prägte er wie kein anderer Vorsitzender die CDU. Er ist im Alter von 87 Jahren gestorben.

Stuttgart - Es hätte seines umfangreichen Memoirenwerkes gar nicht bedurft, um ihm einen festen Platz in der Historie zu sichern. Wie immer man zu ihm steht und wie immer man ihn und sein Wirken betrachtet – Helmut Kohl hat westdeutsche, gesamtdeutsche und europäische Geschichte geschrieben. Das kann ihm keiner nehmen.

 

Nach Francois Mitterrand war er der zweite Politiker, der zum „Ehrenbürger Europas“ ernannt wurde. Als Kanzler hat er an Amtszeit sein Vorbild Adenauer überrundet und wie dieser zu lange regiert. Der Mann aus der Pfalz konnte von der Macht nicht lassen. Er träumte davon, in das von ihm geplante Berliner Kanzleramt einzuziehen und dort das neue Jahrtausend zu begrüßen. Darin hätte er die Krönung seiner Einheitspolitik gesehen.

Die Umstände erfüllten ihm diesen Wunsch nicht. Nach sechzehn Jahren Kanzlerschaft wurde er abgewählt, weil 1998 die Illusion über die deutsche Einheit dahingeschwunden war, weil die Wähler deren Kosten spürten, und auch, weil Kohl es nicht über sich brachte, die Macht an Wolfgang Schäuble abzugeben. Das wäre der dringliche Wunsch der Partei gewesen.

Auf dem Leipziger Parteitag feierte sie den Fraktionsvorsitzenden mit stehenden Ovationen, die Kohl dazu zwangen, Schäuble als seinen Nachfolger auszurufen. Aber ihm, dem Taktierer, gelang es, seine Partei davon zu überzeugen, dass nur er als Spitzenkandidat für die Bundestagswahl 1998 in Frage komme. Das Ergebnis waren dann magere 28,4 Prozent und zugleich das Ende dessen, was man das „System Kohl“ nannte.

Was war das für ein Mann, dem es gelungen war, seit 1973, als er Bundesvorsitzender wurde, die CDU im Griff zu halten und seine Kritiker zu isolieren? Die Antwort ist in seinem Naturell begründet. Kohl wollte Macht ausüben und herrschen. Er war Politiker und sonst beinahe nichts. „Politik ist doch sein ganzes Leben“, sagte seine Schwester. „Wenn der eines Tages als Kanzler aufhört, weiß ich gar nicht, was er machen will.“ Nun, er schrieb Memoiren, um auch noch im Nachhinein mit seinen Kritikern abzurechnen. Aber Tatsache ist auch, dass er schon als Schüler andere um sich scharte und sich zum Anführer machte. Das war dann auch in der Jungen Union nicht anders, die er 1946 mitbegründete, und auch nicht im Landtag von Rheinland-Pfalz, dem er seit 1959 angehörte. Bald war er ein erfolgreicher Ministerpräsident, der bei Wahlen absolute Mehrheiten erzielte.

Von seinem Elternhaus geprägt

Parteipolitisch war er nur in der CDU vorstellbar. In deren Spektrum neigte er mehr zur sozialen als zur radikalen Marktwirtschaft. Sein Vorbild war Konrad Adenauer und dessen Engagement für Europa. Bis zuletzt war es Kohls Ziel: „Die europäische Union unumkehrbar machen, damit sie die kommenden Stürme übersteht.“ Zugleich dachte er auf eine nicht-nationalistische Weise national, und auf eine nicht kirchentreue Art war er ein gläubiger Katholik. Insoweit war er von seinem Pfälzer Elternhaus geprägt. Aber keine dieser Auffassungen erscheint so stark, dass sie den Mann und sein Handeln erklären könnte. Helmut Kohl war ein Machtpolitiker mit einigen Überzeugungen. Dialektisches Denken war seine Sache nicht, ein Umstand, der intellektuelle Kritiker dazu verführte, ihn zu unterschätzen. Eher folgte er instinktiven Einschätzungen und ritualisierten Gewissheiten.

Im ausgeprägten Sinn für Macht lag seine Stärke – und zugleich seine Grenze. Um noch mehr Macht zu erlangen, ging er Risiken ein. So traute er sich 1976 gegen Helmut Schmidt anzutreten. Nach einem fulminanten Wahlkampf verfehlte er die absolute Mehrheit der Union nur knapp, aus dem Stand schaffte er 48,6 Prozent. Ein weiteres Risiko ging er ein, als er sein Pfälzer Regierungsamt aufgab und als Oppositionsführer nach Bonn wechselte. Zunächst musste er mit seinem schärfsten Kritiker zurecht kommen, mit Franz-Josef Strauß. Als Antwort auf den Kreuther Trennungsbeschluss der CSU schickte Kohl einen Beauftragten nach München, der dort vor aller Augen Räume für die erste CDU-Geschäftsstelle anmieten sollte. Strauß musste klein beigeben. Im Wahljahr 1980 ließ er Strauß den Vortritt, der erwartungsgemäß unterlag. Fortan hatte er von dieser Seite Ruhe.

Kohls wichtigste Errungenschaften sehen Sie im Video:

Der Macht im Kanzleramt näherte sich Kohl auf zweifache Weise: Er unterstützte den von Helmut Schmidt angeregten Nato-Doppelbeschluss gegen dessen eigene Partei und entwickelte insgeheim über Hans-Dietrich Genscher eine Partnerschaft mit der FDP. Das führte 1982 zum Sturz von Helmut Schmidt, den Helmut Kohl beerbte.

Der Weg ins Kanzleramt

Als Kanzler wollte er die Schulden verringern und eine „geistig-moralische Wende“ herbeiführen. Als er aus dem Amt schied, waren die Schulden (auch einheitsbedingt) extrem hoch und die moralischen Grundlagen dahingeschwunden. Zu letzterem hatte er durch die Parteispenden-Affären, in die er verwickelt war, selber beigetragen. Kohl hat sich wohl nicht bereichert, aber mit den illegalen Finanzierungsmethoden korrumpierte er das demokratische System. Hier fehlte es ihm bis zuletzt an Unrechtsbewusstsein. Der junge Kohl war 1946 mit dem Pfarrer Johannes Fink bekannt geworden, einem ehemaligen Zentrumsmann und Mitbegründer der CDU, der ihm sagte, eine Partei müsse finanziell immer gut ausgestattet sein. Kohl hat das wohl zu wörtlich genommen.

Innen- und wirtschaftspolitisch hielt sich seine Regierung mit wechselndem Erfolg aufrecht. Kohls Grenze lag darin, dass er von Ökonomie, Finanzen und Sozialpolitik zu wenig verstand. Das überließ er gern anderen, wie seinem Getreuen Norbert Blüm. Dabei zeigte sich eine weitere Schwäche: Er hatte lieber kraftlose Figuren um sich als eigenständige Köpfe. Ehemalige Freunde wurden zu seinen erbitterten Gegnern, erst Biedenkopf, dann Weizsäcker und Geißler, zuletzt Schäuble und Merkel. Als Lothar Späth, Heiner Geißler und andere im Herbst 1989 versuchten, ihn aus dem Amt zu drängen, überstand Kohl auch diese innerparteiliche Krise, wie etliche andere zuvor.

Ausgezeichneter Ruf im Ausland

Er konnte sich darin sicher sein, die Partei im Griff zu haben. Eine Stunde höchstens, so hieß es, könne man mit dem Kanzler über Sachfragen reden, ohne Ende aber über Interna der CDU-Kreisverbände in Holstein oder Südwürttemberg. Zu den einfachen Mitgliedern hielt er engen Kontakt. Zahl und Dauer seiner Telefonate, so hieß es weiter, sichere die Rentabilität von Telekom. Die „Zeit“ beschrieb das System Kohl als „die krisenfeste Herrschaftsform des Patriarchen, eine Mischung aus Notizbuch und Elefantengedächtnis, aus Vertraulichkeiten und Günstlingswirtschaft, abgesichert durch penible Feindbeobachtung und flankiert von gnadenloser Bestrafung bei Unbotmäßigkeit“.

Um so erstaunlicher ist, dass er im Ausland einen ausgezeichneten Ruf genoss. Die Mächtigen, sei es in Paris, Moskau oder Washington, nannte er seine Freunde – und sie waren es wohl auch. Lediglich mit Margret Thatcher kam er nicht zurecht. Als Ungarn die Grenze öffnete und dann in Berlin die Mauer fiel, war Kohl von Anfang an die Hauptperson, an die sich die Fragen und auf die sich die Blicke der Großmächte richteten. Wohl keinem anderen hätte Gorbatschow geglaubt, dass die Bevölkerung nicht auf die sowjetischen Kasernen zumarschiere, sondern eine friedliche Veränderung wolle. Präsident George Bush und dann auch Mitterrand und Thatcher akzeptierten Kohls Masterplan, die Zehn-Punkte-Erklärung. Das setzte Vertrauenskapital voraus, das Kohl angesammelt hatte.

Am Ende verblieb das wiedervereinigte Deutschland in der Nato, und Moskau versprach, seine Truppen abzuziehen. Kohl wusste, dass er der historischen Herausforderung gerecht geworden war. Hätte er bald nach den Wahlen von 1990 seinen Abschied genommen, wäre er als der große Kanzler der Einheit gegangen. Aber sein Problem war, dass er damals auf Macht nicht verzichten konnte. Die Geschichte musste ihn belehren.

Als Angela Merkel 2011 den Ausstieg aus der Atomenergie verkündete, sah Kohl darin eine „bedenkliche Rolle rückwärts“ und sagte das auch öffentlich. Das war eine späte Rache dafür, dass Merkel 1999 in einem „FAZ“-Beitrag die CDU-Mitglieder aufgefordert hatte, „in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross laufen zu lernen“. Kohl vergaß nichts und verzieh nichts.