Das DFB-Pokalfinale an diesem Samstag könnte das letzte BVB-Spiel von Trainer Thomas Tuchel sein. Der Riss mit der Vereinsführung ist wohl nicht mehr zu kitten.

Sport: Marco Seliger (sem)

Berlin - Was den Fußballtrainer Thomas Tuchel glücklich macht? Hansi Kleitsch (65) glaubt die Antwort zu kennen, denn er hat eine gute Quelle: Thomas Tuchel selbst. „Er hat mir mal gesagt, dass es für ihn das allerschönste ist, nach dem Training mit anderen Trainern in der Kabine zu sitzen und ungezwungen über taktische Dinge zu fachsimpeln“, sagt Hansi Kleitsch. Regelrecht aufgeblüht sei Tuchel damals immer nach dem Duschen, erzählt Kleitsch weiter: „Er war kaum noch zu bremsen.“

 

Wer in diesen turbulenten Tagen wissen will, wie dieser Thomas Tuchel tickt und was er fühlt, ist bei Hansi Kleitsch gut aufgehoben. Die beiden wurden im Jahr 2005 zusammen deutscher A-Jugendmeister mit dem VfB Stuttgart. Kleitsch war der Chefcoach, Tuchel der Assistent – und für den Chef war vor seiner Übernahme der A-Junioren klar, dass kein anderer Co infrage kommt. Denn Tuchel hatte auf Kleitsch mächtig Eindruck gemacht.

Kleitsch war um die Jahrtausendwende herum eine Institution in der Jugendabteilung des VfB. Vom damaligen Manager Rolf Rüssmann wurde er als eine Art Supervisor beauftragt damit, die Nachwuchsteams mit Blick auf die Umsetzung der gemeinsamen Spielidee im Alltag zu kontrollieren. Und ein junger, aufstrebender Trainer im Alter von damals 27 Jahren hatte es ihm ab dem Sommer 2001 in der U 15 besonders angetan.

Die Meinung von Hansi Kleitsch

„Thomas hatte eine herausragend gute Art mit jungen Spielern umzugehen und sie zu formen“, sagt Kleitsch, dem aber eines besonders auffiel: „Er war von Anfang an brutal ehrlich, brutal offen und hat allen Beteiligten im Verein gegenüber klipp und klar seine Meinung vertreten.“ Und, ja, ergänzt Kleitsch: „Er hatte damals schon einen Sturkopf.“ Der ehemalige Chef Tuchels überlegt kurz, und dann sagt er diese Sätze, die für ihn in diesen Tagen die wichtigsten sind, wenn es in dieser überhitzten Debatte um seinen Schützling geht, den er von der Pike auf kennt: „Aber genau diesen Sturkopf musst du haben, denn sonst gehst du in diesem Geschäft, bei dem gefühlt tausend Leute dir reinreden wollen, unter. Du musst als Trainer deine Überzeugungen durchsetzen – so wie es der Thomas tut.“

Oder genauer: So wie es der Thomas bis heute tut. Denn darum geht es grundsätzlich in diesen stürmischen Wochen bei Borussia Dortmund, wo der Trainer im Zentrum des Orkans steht. Thomas Tuchel, der ehemalige Jugendcoach des VfB, steht bei Borussia Dortmund vor dem Aus. Der Mann, der den BVB ins DFB-Pokalfinale gegen Eintracht Frankfurt in Berlin an diesem Samstag (20 Uhr/ARD) geführt hat. Der Mann, der sich mit seinem Team nach dem Sprengstoffanschlag auf den Mannschaftsbus am 11. April als Tabellendritter direkt für die Champions League qualifiziert hat und damit das Saisonziel erreicht hat. Der Mann, der in der Vorsaison mit 2,11 Punkten den besten Schnitt aller BVB-Trainer der Clubgeschichte erzielt hat.

Was ist passiert, dass dieser Coach nach all diesen Erfolgen womöglich schon bald Vergangenheit in Dortmund ist? Es ist eine Geschichte über gekränkte und verletzte Eitelkeiten. Über Deutungshoheiten. Und über das Image, das vor allem der Geschäftsführer des BVB im Sinn hat.

Fachlich ist Thomas Tuchel, der Fußballnerd aus Bayerisch-Schwaben über jeden Zweifel erhaben. Er gehört zu den begehrtesten Trainern in Europa. Über seine menschliche Seite debattieren sie in Dortmund dagegen schon seit Monaten. Fehlende Kritikfähigkeit, Launenhaftigkeit, divenhaftes Verhalten gegenüber Angestellten, fehlende Identifikation mit dem Verein. Und im Trainingsalltag zu detailverfressen, nervig, pedantisch, oft zu schroff im Umgangston. All diese Vorwürfe musste Thomas Tuchel in den vergangene Wochen über sich lesen und hören in Dortmund. Meist hinter vorgehaltener Hand. Beim FSV Mainz 05, seiner vorherigen Station, gab es ähnliche Stimmen. Fachlich top, aber menschlich...

Die Meinung von Nikolce Noveski

Ein Mann, der Tuchel in Mainz fünf Jahre erlebt hat, zeichnet ein differenziertes Bild seines Ex-Trainers. Nikolce Noveski, ehemaliger Kapitän der 05er, sagt: „Wenn man seine Aufgaben erledigt, kommt man mit ihm klar. Er ist ein Mensch, der seine Pläne durchgesetzt haben will, aber man konnte offen mit ihm reden, auch konfrontativ sein.“ Ob sein Ex-Coach zu fordernd und zu pedantisch sei? Noveski betont, dass Tuchel sich gerne um Sachen streite, die ihm wichtig seien. Aber: „Er legt auch viel Wert auf einen positiven Mannschaftsgeist.

Hansi Kleitsch, der nach seiner Zeit beim VfB erst beim FC Bayern München Scout wurde und nun seit vier Jahren Chefscout bei 1899 Hoffenheim ist, verfolgt die Debatten über seinen ehemaligen Zögling aufmerksam. Der gebürtige Kirchheimer sagt: „Ich weiß, wie Thomas ist. Er ist ein intelligenter Trainer und lässt sich nicht verbiegen. Und das ist gut so.“ Tuchels Detailverliebtheit, die er schon in Stuttgart bei den gemeinsamen Trainerhocks in der Kabine bemerkte, ist für Kleitsch keine Pedanterie. Sondern Besessenheit im besten Sinn: für das Ziel, sein Team in jedem Detail weiterzuentwickeln.

Beim BVB haben sie da eine andere Meinung. Die Zweckehe scheint vor dem Ende zu stehen. Borussia dementiert in diesen Tagen nicht mal mehr Verhandlungen mit möglichen Nachfolgekandidaten wie Lucien Favre (früher Borussia Mönchengladbach, heute OGC Nizza). Der Strippenzieher ist aktuell Tuchels größter Gegenspieler. Es ist der BVB-Geschäftsführer und hört auf den Namen Hans-Joachim Watzke.

Wer nach Gemeinsamkeiten von Tuchel und Watzke sucht, der findet keine. Auf der einen Seite steht der Taktikfetischist Tuchel. Der Kopfmensch, der Asket. Und auf der anderen der gerne hemdsärmelig und volksnah auftretende Watzke, der gerne bei jeder Gelegenheit die Fußball-Romantik verteidigt und versucht, die Ruhrgebiets-Folklore vorzuleben. „Echte Liebe“ – das Vereinsmotto des BVB hat sich Watzke zu eigen gemacht.

Zum großen öffentlichkeitswirksamen Bruch zwischen Watzke und Tuchel kam es nach dem Sprengstoffanschlag auf den BVB-Mannschaftsbus Mitte April. Tuchel und einige Spieler hatten sich von Watzke, der am Abend des Anschlags dem Krisenstab angehörte, gedrängt gefühlt, das Spiel schon am Tag danach nachholen zu müssen. Weil Tuchel ein Bild von Funktionären zeichnete, die über die Köpfe der Spieler und des Trainers hinweg entschieden hatten, und es dafür breite Zustimmung gab, stand Watzke plötzlich als kalter Geschäftsmann da, der auf Gefühle keine Rücksicht nimmt.

Dass mit dem Anschlag die Rollenbilder beim BVB durcheinandergeraten sind, konnte Watzke nicht verkraften. Wirklich leiden konnte er den kühlen Kopfmenschen Tuchel wohl sowieso noch nie. Plötzlich aber, und das war für Watzke der Gipfel, stand dieser Matchplan-Trainer Tuchel als warmer Herzensmann da, der sich für mehr Menschlichkeit ausspricht. Offenbar tief gekränkt schlug der Geschäftsführer zurück. Watzke setzte den Konter. Er offenbarte Anfang Mai einen „klaren Dissens“ mit dem Trainer und deutete einen Vertrauensbruch an.

Bei diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten ist es auch wichtig zu wissen, dass Watzke schon zuvor schon eine schlechte Phase hatte. Ihm wurde im Februar zur Last gelegt, mit seiner Kritik am Geschäftsmodell von Emporkömmling RB Leipzig genau jene Stimmung angeheizt zu haben, die sich in Attacken von BVB-Randalieren gegen Leipziger Fans beim Aufeinandertreffen in der Liga in Dortmund entlud.

Auf einmal stand Watzke nicht mehr als Verteidiger der Fußball-Romantik da, sondern als plumper Provokateur. Und als er zwei Monate später nach dem Attentat auf den Bus noch in die Rolle des kalten Technokraten geriet, musste etwas geschehen. Watzke holte zum Gegenschlag aus. Ohne Rücksicht auf den Erfolg im Saisonfinale.

Darum geht es bei diesem Dortmunder Trauerspiel schon lange nicht mehr. genauso wenig wie um die Fähigkeiten des Trainers Thomas Tuchel. Der stellte vor zwei Wochen in der Mannschaftskabine laut Medienberichten die Vertrauensfrage, nachdem in der Öffentlichkeit von zwei Lagern innerhalb des Teams die Rede war. Die einen sollen vorher Tuchels schroffen Umgangston angeprangert haben (teils anonym), die anderen waren begeistert von den fachlichen Qualitäten. In der Kabine blieben negative Reaktionen offenbar aus. Und Tuchel sagte hinterher diesen Satz: „Zwischen den Spielern und mir herrscht maximales Vertrauen.“ Einige BVB-Profis berichteten dann nüchtern von einem professionellen Verhältnis. Andere wie der Weltmeister Matthias Ginter positionierten sich klarer: „Er ist ein Top-Fachmann“, sagte er: „Was er taktisch drauf hat, habe ich noch nie erlebt.“

Was also passiert nun mit Thomas Tuchel, der beim BVB noch bis 2018 unter Vertrag steht? Sein Berater betont dass er in Dortmund bleiben will. Man stelle sich das nur mal vor: Tuchel (43) holt am Samstag den DFB-Pokal und wird am Sonntag von Hunderttausenden in Dortmund für den größten Erfolg seit dem Doublegewinn 2012 gefeiert. Hans-Joachim Watzke hat für Montag oder Dienstag nächster Woche ein Gespräch mit Tuchel angekündigt. Gut möglich, dass es das letzte der beiden sein wird.