Teodor Currentzis geht, François-Xavier Roth ist noch nicht da: In der Interims-Saison 2024/25 hat das SWR-Symphonieorchester keinen Chefdirigenten – und setzt dafür auf die Strahlkraft der Residenzkünstlerin Patricia Kopatchinskaja.

Wenn sich Teodor Currentzis im Juni als Chefdirigent vom SWR-Symphonieorchester verabschiedet, dann endet für den Klangkörper endgültig die Zeit von Fusion, Neudefinition und Konsolidierung, und für das Publikum endet eine Ära, die neben viel Kunst auch sehr viel Glamour geboten hat. Wenn Currentzis dirigierte, war der Beethovensaal voll. 2025 wird ein Nachfolger kommen, der in gewisser Weise auch sein Vorgänger ist: François-Xavier Roth war der letzte Chefdirigent des 2016 mit dem Stuttgarter Radio-Sinfonieorchester zusammengeführten SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg und ist ein vollkommen anderer Dirigenten-Typ. „Currentzis hat Kultcharakter. Roth steht für Nachhaltigkeit und Publikumsbindung“, sagt die Orchestermanagerin Sabrina Haane, die beim SWR „Gesamtleiterin“ heißt, als sie das Programm des Orchesters für die kommende Spielzeit vorstellt.

 

Woher kann künftig Strahlkraft kommen?

2024/25 wird eine Saison des Übergangs sein, und beim Durchblättern des Programms spürt man allerorten das Bemühen, Vergangenes und Kommendes, Strahlkraft und Nahbarkeit, Spektakel und Konstanz zusammenzubringen. Für die vakant gewordene Position des Publikumsmagneten steht eine der zurzeit schillerndsten Persönlichkeiten des Klassik-Betriebs: Patricia Kopatchinskaja. Sie wird als „Artistic Partner“ (erstmals) zwei Spielzeiten lang nicht nur als Geigensolistin, sondern auch kuratierend, also als Programmgestalterin aktiv sein.

Gemeinsam mit dem Dirigenten Ingo Metzmacher bringt sie Schostakowitschs erstes Violinkonzert und György Ligetis „Mysteries of the Macabre“ mit Karl Amadeus Hartmanns dritter Sinfonie und Ligetis „Lontano“ zusammen. Und im Wizemann ergänzt sie die Reihe „Linie 2“ als Reflex auf den Ukraine-Krieg mit einem „Peace Project“. Wer 2022 bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen das Konzert miterlebte, in dem Kopatchinskaja mit dem Mahler Chamber Orchestra auf die Klimakatastrophe reagierte, der weiß um die Radikalität, zu der diese zarte Barfuß-Musikerin fähig ist.

Das Orchester betont seine Vielfalt

Das SWR-Symphonieorchester betont seine Vielfalt und Offenheit. Zu diesem Zweck wird die „Linie 2“ ausgeweitet, die das Orchester in Freiburg etablierte und in der zu Ende gehenden Saison auch nach Stuttgart brachte: Neben dem „Peace Project“ wird es hier „Radiomusiken“ geben und eine Kombination von Musik (Schostakowitschs 15. Streichquartett) und Text (Dominique Horwitz liest aus Julian Barnes’ Schostakowitsch-Roman „Der Lärm der Zeit“). Außerdem gibt es im Wizemann ein Konzert zum 100. Geburtstag von Pierre Boulez. Und da der designierte Chef ein „Zieh-Enkel“ dieses Komponisten-Dirigenten ist, steht François-Xavier Roth bei zwei weiteren Boulez-Konzerten am Pult – allerdings nicht in Stuttgart und Freiburg, sondern bei den Pfingstfestspielen im Festspielhaus Baden-Baden. Interessant könnten dabei auch die Kompositionen von Mark Andre und Enno Poppe sein: Beide haben sich als Hommage an Boulez Teile von dessen „Notations“ vorgenommen, die Boulez nicht instrumentiert hat.

Eine dominierende Linie zieht sich durch die ganze Spielzeit: Unter dem Titel „Klänge aus dem Osten“ geht es um Werke polnischer, russischer und tschechischer Komponisten. Unter den Dirigenten der Abo-Reihe sind interessante Debütanten wie zum Beispiel der zurzeit hoch gehandelte Petr Popelka, der Neue-Musik-Spezialist Bas Wiegers oder die Litauerin Giedrė Šlekytė, die gemeinsam mit dem temperamentvollen Feinklangmotoriker unter den Cellisten auftritt, Jean-Guihen Queyras. Šlekytė ist bei den Abonnementskonzerten 2024/25 die einzige Frau am Pult des SWR-Symphonieorchesters; auch nach komponierenden Frauen sucht man im Programm jenseits der Donaueschinger Musiktage vergebens. Dafür gibt’s gleich zwei Wiederbegegnungen mit dem Dirigenten Pablo Heras-Casado (der für Bruckners 200-Jahr-Jubiläum zuständig ist), und am Pult stehen renommierte Kollegen wie Jonathan Nott, Jukka-Pekka Saraste und Andrés Orozco-Estrada.

Es gibt Abos auf Probe

Die Mittags- und Kammerkonzerte werden fortgeführt. Und weil es, so Haane, „immer wichtiger wird, sich im Sendegebiet sehen zu lassen“, ist das Orchester verstärkt im Ländle unterwegs. Außerdem wird es wieder zwei Konzerte nur für Schüler, Studierende und Auszubildende geben. Und erstmals wird nicht nur das komplette Abo mit zehn Konzerten, sondern auch ein Probe-Abo mit fünf Konzerten angeboten. Wie die Ausweitung der „Linie 2“-Konzerte zielt auch all dies auf den Nachwuchs. Teodor Currentzis geht, und die jungen Menschen, die er anzog, muss man neu gewinnen. Es gibt viel zu tun.

Die Saison 2024/25 beim SWR Symphonieorchester

Auftakt
Unter der Leitung von Pablo Heras-Casado gibt’s am 12./13. 9. passend zum Bruckner-Jahr dessen sechste Sinfonie und das „Te Deum“. Im zweiten Bruckner-Konzert am 20./21 3. dirigiert Heras-Casado die f-Moll-Messe. Mit dabei: das SWR-Vokalensemble.

Artistic Partner
Patricia Kopatchinskaja spielt am 13./14. 2. den Solopart in Schostakowitschs erstem Violinkonzert (Dirigent: Ingo Metzmacher). Außerdem gestaltet sie ein „Piece Project“ im Wizemann.

Programmschwerpunkt
„Klänge aus dem Osten“ bietet Werke von Suk, Ljadow, Tschaikowsky, Prokofjew, Schostakowitsch, Dvorák, Rachmaninow, Skrjabin und Szymanowski. Am Pult stehen Juraj Valcuha, Petr Popelka, Jonathan Nott, Jukka-Pekka Saraste, Bas Wiegers, Giedrė Šlekytė und Andrés Orozco-Estrada, Solisten sind Leif Ove Andsnes, Francesco Piemontesi, Carolin Widmann, Jean-Guihen Queyras und François Leleux.

Boulez
Bei den Pfingstfestspielen Baden-Baden gibt’s am 31. 5. eine Hommage an den 100-Jahr-Jubilar Pierre Boulez, geleitet vom designierten Chefdirigenten François-Xavier Roth.

Karten
072 21 / 30 01 00 und unter www.swr.de/swrkultur/musik-klassik/symphonieorchester